Dresdner Lyrikpreis 2026: Nominierte stehen fest

Die Jury besteht aus Uwe Kolbe (D), Radek Malý (CZ), Katharina Schultens (D), Jitka Bret Srbová (CZ), Alžbìta Stanèáková (CZ) und Jan Wagner (D). Maßgeblich für ihre Entscheidung waren die literarische Exzellenz des Werkes der Nominierten sowie die eigenständige Entwicklung und Originalität ihrer poetischen Handschrift. Für die Jury standen die „Einzigartigkeit des Ausdrucks, die Eindringlichkeit und der Sinn der poetischen Aussage“ im Mittelpunkt. Gleichzeitig war den tschechischen Jurymitgliedern wichtig, dass die ausgewählten Dichterinnen und Dichter durch ihre verschiedenen Poetiken und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Autorengenerationen „ein plastisches Bild der zeitgenössischen tschechischen Poesie“ vermitteln.

Ablauf des Auswahlverfahrens

Die Finalisten zum Dresdner Lyrikpreis werden in einem zweistufigen Verfahren ermittelt. Aus den Vorschlägen der Jurymitglieder werden je drei deutsch- und drei tschechischsprachige Lyrikerinnen und Lyriker für die Finalrunde nominiert. Im Zentrum der Juryauswahl stehen die literarische Qualität, Originalität und poetische Entwicklung der Nominierten. Durch dieses Verfahren formiert sich ein hochkarätiges Finale mit poetisch herausragenden Stimmen.
Der Dresdner Lyrikpreis, ausgelobt vom Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Dresden, wird alle zwei Jahre vergeben. Er richtet sich an Autorinnen und Autoren, die in deutscher oder tschechischer Sprache schreiben und ihren Lebensmittelpunkt in Europa haben. Der Preis ist mit insgesamt 15.000 Euro dotiert und wird in zwei gleich hohen Teilen von je 7.500 Euro vergeben – an eine Dichterin bzw. einen Dichter in deutscher Sprache und an eine Dichterin bzw. einen Dichter in tschechischer Sprache. Begleitend erscheint eine zweisprachige Anthologie mit Gedichten aller Finalistinnen und Finalisten und ihren Übersetzungen. Die Preisträger 2024 waren Petr Borkovec (CZ) und Georg Leß (D).

Hintergrund zu den Nominierten und kurze Begründung der Jury

Elsa Aids (*1981, literarisches Pseudonym) ist Dichter und Schriftsteller. Seit den späten Nullerjahren thematisiert er in seinen Texten queere Körperlichkeit und toxische Männlichkeit. In seinen Gedichten lässt sich eine gewisse Scheu und Unnahbarkeit beobachten. Seine Texte sind bodenständig, zeitgemäß und verständlich, oft mit einer Portion Grausamkeit, Defätismus und Verfall durchsetzt. In seiner neuen Sammlung Lazarská a jiné básnì (Lazarská und andere Gedichte, 2023), auf die sich auch diese Nominierung bezieht, ist er jedoch milder geworden. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um ironische oder aufrichtige Zärtlichkeit handelt. In diesem weniger grausamen Gewand kommen die Aussagen des Dichters, der in einem Land der Wohnheime und Lagerhäuser, also in der von sozialen und anderen Krisen heimgesuchten Tschechischen Republik, nach Nostalgie sucht, noch besser zur Geltung.

Tereza Bínová (*1990) stammt aus der Vysoèina und arbeitet als Psychologin. Sie hat bisher vier Gedichtbände veröffentlicht. Im Jahr 2014 veröffentlichte sie ihren ersten Sammelband, Souborná zkouška (Kollektive Prüfung). Ihr neuester Gedichtband heißt Èervený obr (Der rote Riese) und wurde mit dem Preis Magnesia Litera 2024 ausgezeichnet. Ihre Lyrik stellt in der tschechischen Literaturszene eine bemerkenswerte Kombination aus konzeptueller Poesie und einer hohen Sensibilität und Wirksamkeit des poetischen Bildes dar. Sie achtet auf jedes Wort und geht sparsam mit ihnen um. Der Gedichtzyklus, der den vierten Gedichtband Èervený obr (2023) bildet, auf den wir besonders hinweisen möchten, zieht uns in eine sehr durchdachte Struktur poetischer Zeugnisse hinein. Kleine Natur- oder Familienszenen aus der unmittelbaren Gegenwart treffen hier auf Echos aus der Vergangenheit und werden auch mit der begrenzenden Ungenauigkeit der Erinnerung konfrontiert. Die Dichterin beobachtet und hält fest, wie sich die Bedeutung der Aussage durch einen Wechsel der Kulisse oder der Zeit verändert. Alles, was sie mit typischer Zurückhaltung, aber gleichzeitig mit außergewöhnlicher Intensität schildert, ist in der Sammlung gleichzeitig zwischen den gewaltigen Bewegungen der Himmelskörper, im Raum zwischen Entstehung und Vergehen eingebettet.

Yveta Shanfeldová (*1957) wuchs in einer Großfamilie auf, in der nicht nur Tschechisch und Slowakisch, sondern auch Rumänisch und Deutsch gesprochen wurden. Seit 2006 hat sie sechs Gedichtbände veröffentlicht, von denen der letzte, der von der Jury diskutiert und 2024 veröffentlicht wurde, den bezeichnenden Titel Výstava posedlostí (Ausstellung der Obsessionen) trägt. Darin entwickelt die Autorin ihre eigenwillige Poetik weiter, die hier ihre wahre Meisterschaft erreicht. Die Erforschung, Kartierung und Benennung der oft nächtlichen Welt, der wir hier begegnen, ist intim, prägnant und unverfälscht. Sie wird von der beharrlichen, fast obsessiven Beobachtung der Autorin dominiert – scheinbar unwesentlicher Details, des Vergehens der Zeit und aller Arten von Vögeln. Alles fließt in einem rasanten, aber in gewisser Weise übersichtlichen Strom bunter bis ekstatischer Fantasie, für die der Vers der Autorin uneingeschränkt gilt: „Was nicht übertragbar ist, ist letztendlich so furchtbar übertragbar.“

Róža Domašcyna (*1951) schreibt Lyrik, Essays, Dramatik und Rezensionen, ist auch Herausgeberin und Nachdichterin. Mit ihrer Nominierung wird auf ein Lebenswerk aufmerksam gemacht. In der Oberlausitz geboren, schreibt die Dichterin in zwei Muttersprachen, sorbisch und deutsch. Sie gehört damit einer Tradition an, der vom Ursprung her die Selbstbehauptung eingeschrieben ist. Ihre Gedichte formulieren in nicht allzu üblicher Offenheit – „ich ein hybrid du ein hybrid“ – Selbstzweifel, gern auch im Sprachspiel. Sie scheuen sich nicht, den Kulturgrund, der mit dem Tagebau abgesoffen ist, in emotionaler Bewegung heraufzuholen in die Sichtbarkeit. Und nicht minder präsent ist darin der fade Grund der steuerbegünstigten Aufforstung einer Randzone, durchaus mit dem Sarkasmus, wie er Volksmund eignet. Der Blick dieser Gedichte auf Geschichte, auf Land und Landschaft im Übergang und im Verschwinden, auf das Nächste, die Liebe, die Nachbarschaft auch jenseits der Grenze sowie auf das Wort selbst … führt von der zwiefachen Sprach-Grundierung zu genussreicher Vielfalt in Form und Ausdruck. Róža Domašcyna lesend und hörend könnte die Erkenntnis sich einstellen, „diese gegend sieht uns ähnlich“ (Die dörfer unter wasser sind in deinem kopf beredt, 2016).

Nadja Küchenmeister (*1981) ist freiberufliche Schriftstellerin und arbeitet für den Rundfunk als Hörspiel- und Feature-Autorin. Sie lehrte Literarisches Schreiben u.a. am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Seit 2010 hat sie vier Gedichtbände veröffentlicht. Ihr lyrisches Ich träumt, erinnert sich, reflektiert, spricht aus der Mitte eines Lebens davon, wie jeder gelebte Moment schon Erinnerung wird, und bleibt doch immer präsent in seiner Wahrnehmung. Dabei sind die Toten immer anwesend, stehen in einem Austausch mit den Lebenden, die vergebliche Versuche unternehmen, ihnen etwas über die Schwelle zu reichen. Vor allem in Küchenmeisters jüngstem Band „Der Große Wagen“ (2025), einem Langgedicht, ist eine ständige Bewegung entscheidend für ihr lyrisches Verfahren: „wirbel, die neue wirbel ergeben“, ein „ständiges verstolpern von schritt und schrift“. Überblendungen schaffen Wechsel zwischen Orten – Berlin, Köln, Lissabon – und so steht der Mond über der Käthe-Niederkirchner-Straße, eine Tram fährt ab Richtung Thielenbruch oder der Tejo liegt im Dunst. Unterbrochen wird diese Bewegung nur, um plötzlich auf Details zu fokussieren, in intensiven Stills. Manche Dinge leuchten besonders deutlich in dieser Poesie, aber die Ränder aller ihrer Bilder glühen.

Marion Poschmann (* 1969) schreibt Lyrik, Prosa und Essays. Sie begeistert mit ihrer so leichthändigen wie zwingenden Anverwandlung traditioneller Muster. In ihren neuen Gedichten, insbesondere in dem Band Nimbus (2020), überblendet sie diese Formkunst mit den drängenden Fragen unserer Gegenwart und schreckt selbst vor einem schneedurchwehten, rußduftigen Sonettenkranz über die „Große Nordische Expedition“ nicht zurück. Ihre Gedichte sind bei aller Sinnlichkeit und aller Lust am Detail bis ins i-Tüpfelchen sprachbewusst und reflektiert. Sie forscht sie den Verbindungslinien zwischen Entdeckerlust und Naturzerstörung, zwischen Ungeheuerlichkeit und Schönheit nach – es ist eben nur ein Zeilensprung vom biographischen Detail und der privaten Empfindung hin zu den großen Erschütterungen und den fatalen globalen Zusammenhängen. Die „Rettung des Weltklimas aus/ dem Geiste der deutschen Ode“, wie die Dichterin mit feiner Ironie anmerkt, mag fraglich sein, das Entzücken bei der Lektüre ihrer bildstarken, überraschenden, erhellenden Gedichte ist es keinesfalls.


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